Akuma

Es war noch kein kalter Morgen als alle die immer lauter werdenden Schritte vernahmen, die zierlichen Füße, die die Treppe zum Dachboden hochkamen und schließlich die schwere Türe aufstießen. Das Gesicht war nicht zu sehen, der große Karton, den die Hände umklammerten, versperrten die Sicht.
Ein Ächzen war zu hören als die Person endlich wieder die Hände frei hatte und die braune Pappe zu einem Gefühl an anderen Kisten schob. "Runtertragen kann das Zeug aber wer anders", tönte ein Fetzen des Selbstgesprächs an die vielen Ohren, die der jungen Frau hinterhersagen als sie über ein paar Lichterketten stolpernd und einige Krippeneinzelnteile hüpfend wieder aus dem Dachboden verschwand.
Langsam näherten sich die Bewohner des Stockwerks der neuen Kiste. Ein Strampeln konnten sie daraus hören, bis die Klappe oben aufsprang und, zwischen einem Gewühl von Beinen, der Kopf eines Rentieres heraussah. Sobald das Stofftier die Ansammlung an Weihnachtsengeln, Porzellanelchen, einem dicken, kitschigen Weihnachtsmann, einigen Christbaumschmuckhirten, zwei Plastikgrinchs, fünf Hirten und einer Garnison an verschiedensten Krippenfiguren nur einen knappen Meter vor sich sah verschwand der Kopf wieder in den Tiefen des Kartons.
Noel, ein blonder, in weiß gekleideter Porzellanengel, seufzte und übernahm wie jedes Jahr die Aufgabe den neuangekommenen Schmuck zu begrüßen.
"Willkommen!" schallte die Stimme zum Rentier hinüber, das jetzt etwas verschüternd wieder hochsah.
"Willkommen im immerwährend Land der Weihnacht!"

Das Rentier legte den Kopf schief, wohl etwas verwundert über die freundlichen Worte. Dabei lehnte es sich soweit auf die linke Seite, dass der Karton mit einem halblauten "WUMP" umfiel.
Noel warf einigen lachenden Holzengelchen einen bösen Blick zu und half dem Neuankömmlich, sich aus dem Wirrwarrr der eigenen Beine zu befreien.
"Danke", murmelte es, und als es aufsah staunten die Dachbodenbdwohner nicht schlecht. Selbst die Vogelscheuchen vom vergangenen Herbst rissen die Augen auf und einer der Plastikosterhasen war so überrascht, dass er von seinem Platz auf der Kommode runterfiel.
Das Rentier war grau. Für ein Plüschtier eine wirklich außergewöhnliche Farbe, waren einige der Kameraden doch tiefbraun. Und es war auch kein rotnasiges Rudolph Rentier.
"Ich bin Noel", stellte sich der Engel hastig vor um die Situation zu überspielen, aber der Fremde starrte schon verlegen auf die eigenen Hufe. Lediglich ein leises Murmeln drang an die Ohren der anderen.
"Bitte?" fragte Noel und blieb nur einige Zentimeter vor dem Stofftier stehen. Privatsphäre kannte der Engel nicht, dass hatten die restlichen Bewohner direkt von ihm gelernt. Man munkelte, er habe einige Monate ohne Verpackung dicht an einige Artgenosse gedrängt verbracht, aber ob es nur ein Gerücht war...
"Ich heiße Dasher" kam die Antwort nur einige wenige Dezibel lauter als zuvor.

Es war soweit: An einem noch gar nicht kalten oder verschneiten Morgen wurden die Bewohner wieder vor den schweren Schritten auf der Treppe geweckt und kurze Zeit später standen drei große Kisten im Flur, de ersten Sachen wurden rausgeräumt, entwirrt, repariert - was eben so anfiel.
Dasher hatte sich noch nicht allzu gut eingewöhnt. Das verschüchterte Rentier hatte sich die vergangenen Tage an Noel gehängt, der eine wichtige Rolle zu spielen schien: Immerhin organisierte der Engel die Kisten und stellten Listen auf, wer mit wem in ein Zimmer wollte um diese anschließend in die richtige Kartonecke zu verfrachten. Nachts hatte das Rentier schon einmal die berüchtigten Parties gehört und ansonsten nur etwas von ein paar Tannenbaumschmuckstücken und Nussknackern mitbekommen.
Nun aber war das kleine, weiße Fellbüschel auf dem Sofa postiert. Noel war ein paar Meter entfernt auf dem Fensterbrett, die Nussknackerarmee stand demonstrativ vor dem elektrischen Kamin. Das Wohnzimmer war auch in vielen anderen Aspekten der Inbegriff  der Weihnacht.
Aber obwohl das lange Warten endlich vorüber war wurde Dasher mit jeder Minute aufgeregter und in der Nacht konnte er kein Auge zumachen.
Morgens besuchte ihn Noel zum ersten Mal. "Guten Morgen!...Oh wei. Alles in Ordnung?" Der Engel beugte sich über das Stofftier und inspizierte es mit den Augen.